Bundespräsident Joachim Gauck hat dem Bürgermeister von Srebrenica, Ćamil Duraković, heute einen Brief zukommen lassen. Während des Bosnienkrieges hatten in der Gegend von Srebrenica im Juli 1995 Streitkräfte unter Führung von General Mladić ein Massaker an mehr als 8.000 bosnischen Jungen und Männern verübt. Der Bundespräsident schreibt:
Der 11. Juli zwingt uns zum Innehalten und zu einem schmerzhaften Rückblick, gerade in diesem Jahr, in dem sich das Massaker von Srebrenica zum 20. Male jährt.
Es waren schon drei lange schwarze Jahre, als Srebrenica eingekesselt war von serbischen Einheiten: eine Enklave, bedrängt vom Hunger und von Kälte, bedroht von Kugeln, Granaten und Bomben.
Aber es waren die schwärzesten Tage für Srebrenica, als die Truppen des Generals Mladić die Stadt Anfang Juli 1995 überrannten. Über 8.300 Männer wurden ermordet. Einzeln oder massenhaft exekutiert, verscharrt in Massengräbern: Bosniaken im Alter von 13 bis 78 Jahren.
Meine Gedanken sind heute bei Ihnen, den tausenden Müttern, Schwestern, Ehefrauen, die damals ihre Liebsten verloren. Meine Gedanken sind auch bei Ihnen, denen Freunde, Kollegen, Schulkameraden geraubt wurden, im Namen einer menschenverachtenden Ideologie, die den Nachbarn gegen den Nachbarn hetzte.
Srebrenica ist das schlimmste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs: ein Völkermord, für den das UN-Kriegsverbrechertribunal bereits eine Reihe der Verantwortlichen verurteilt hat.
Srebrenica ist aber auch ein Symbol für das Versagen der Völkergemeinschaft geworden. Nur mit großer Scham kann ich daran denken, dass wir Sie allein gelassen haben: Die internationale Staatengemeinschaft schützte Srebrenica nicht, obwohl Srebrenica doch eine UN-Schutzzone war.
Auch nach 20 Jahren sind die seelischen Wunden nicht verheilt.
Viele Hinterbliebene konnten ihre Verwandten und Freunde inzwischen zu einer würdigen Ruhestätte überführen. Zahlreiche Massengräber wurden entdeckt, die Ermordeten identifiziert. Andere Hinterbliebene aber warten immer noch auf die Überreste ihrer Liebsten. Und solange noch Opfer vermisst werden, kann Vergangenheit nicht Vergangenheit werden.
Auch viele Täter sind immer noch nicht zur Verantwortung gezogen worden. Und solange sich Täter und Opfer auf der Straße begegnen, ohne dass das Verbrechen gesühnt ist, bleibt den Trauernden die Rückkehr ins Leben versperrt.
Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen. Aber es liegt an uns, dass das Verbrechen nicht in Vergessenheit gerät. Verbrechen müssen als Verbrechen und Völkermord als Völkermord benannt werden. Nur wenn wir uns mit der umfassenden, vielschichtigen, schmerzenden Vergangenheit konfrontieren, gewinnen wir Zukunft. Eine Zukunft, in der aus neuen Kindern weder Opfer noch Täter werden.
Wir können den Schmerz der Hinterbliebenen nur ahnen. Aber mit unseren Herzen und mit unseren Gedanken stehen wir an ihrer Seite.