Schreiben an den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, zum Gedenken an die Befreiung Leningrads

Schwerpunktthema: Pressemitteilung

27. Januar 2014


Bundespräsident Joachim Gauck hat dem Präsidenten der Russischen Föderation, Herrn Wladimir Wladimirowitsch Putin, zum Gedenken an die Befreiung Leningrads am 27. Januar 1944 folgendes Schreiben gesandt:

"Sehr geehrter Herr Präsident,

die Einwohner von Sankt Petersburg und der ganzen Russischen Föderation gedenken in diesen Tagen des 70. Jahrestages der Befreiung Leningrads durch die Rote Armee am 27. Januar 1944.

Ich kann nur mit tiefer Trauer und mit Scham an den Vernichtungskrieg Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion denken. Ein besonders schreckliches Geschehen war die brutale Einkesselung Leningrads. Wie haben die verzweifelten Menschen der eingeschlossenen Stadt und die Bürger der Sowjetunion damals den Tag der Befreiung herbeigesehnt! Wie unaussprechlich groß war das Leiden und Sterben, das nun, nach zweieinhalb Jahren der Belagerung, endlich zu Ende ging.

Mit den Bürgerinnen und Bürgern Sankt Petersburgs erinnere ich mich des Martyriums so vieler Unschuldiger, so vieler Frauen, Männer und Kinder, die bewusst dem Hungertod ausgesetzt wurden. Aus erschütternden Tagebüchern wie dem von Tatjana Sawitschewa kennen wir die Schreie und die Tränen, die Verzweiflung und den endlosen Hunger und den Überlebenskampf der Eingeschlossenen. Das ungeheure Ausmaß des menschlichen Leids macht uns immer noch fassungslos.

In Russland, aber auch in Deutschland ist die Erinnerung an diese unbarmherzige Belagerung lebendig. Bei allen gerecht denkenden Menschen steht sie für die verbrecherische Kriegsführung, welche die nationalsozialistische Führung gerade im Kampf gegen die Sowjetunion ganz bewusst betrieb. Der Deutsche Bundestag widmet in diesem Jahr seine Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus am
27. Januar auch der Erinnerung an die Toten und Traumatisierten der Belagerung von Leningrad.

Deutschland ist sich seiner geschichtlichen Verantwortung für das Leid, das den Einwohnern Leningrads angetan wurde und für die brutale Kriegsführung seiner Soldaten, Einsatzgruppen und SS-Formationen bewusst. Ich sage Ihnen und Ihrem Volk: Wir teilen den Schmerz um die Opfer und wir fühlen mit den Überlebenden, die bis heute unter den Folgen des Krieges leiden.

Der Zweite Weltkrieg hat tiefe Wunden im Verhältnis zwischen unseren Ländern hinterlassen. Es bleibt unsere Aufgabe, die Erinnerung an das Leid, das Deutsche Russen angetan haben, wachzuhalten. Doch diese Erinnerungen helfen uns auch, jeden Schritt der deutsch-russischen Versöhnung besonders hoch einzuschätzen. Hochherzigen und großmütigen Menschen haben wir zu verdanken, dass wir uns wieder in die Augen schauen und mit guten Absichten begegnen können.

Von tief überzeugten Humanisten wie Lew Kopelew haben wir gelernt: Gegenseitiges Verstehen schafft neue Brücken. Wahrheit und Menschenliebe können Hass und Feindschaft überwinden. In diesem Sinne wollen wir mit all unserer Kraft weiter an einem gemeinsamen Europa bauen. Dann können wir heute, trotz all der Erinnerung an das Böse und den Schrecken, mit Zuversicht in eine gemeinsame Zukunft des Friedens und der Sicherung unserer humanen Werte schauen."